Gesprächsfragmente 2009 bis 2012

 


Iris Jungels im Gespräch mit Wolf Hamm

Gesprächsfragmente 2009 bis 2012 Iris Jungels

Text zur Ausstellung  In der Kürze der Zeit / Beck & Eggeling, Düsseldorf 2012



Das folgende Interview stellt eine Zusammenfassung aus Gesprächen dar, die von 2009

bis 2012 zwischen Wolf Hamm und Iris Jungels stattgefunden haben. Anlass der

Aufzeichnungen ist ein laufendes Dokumentarfilm-Projekt, das sich der Entstehung des

Gemälde-Zyklus 'Die großen Prozesse' widmet.

I.J.: Fällt es Dir leicht, über Deine Kunst zu reden?

W.H.: Über Kunst zu reden, ist unheimlich schwer. Alles, was in Worten auszudrücken ist,

ist für die Sprache. Kunst zu machen, ist eigentlich genau das Gegenteil davon, darüber

zu reden, denn das Machen ist etwas Nonverbales. Kunst ist anscheinend das, was wir

nicht wirklich begreifen, aber an dem wir uns immer wieder reiben können. Das ist es ja,

was es immer wieder so spannend macht. Ich bin natürlich mit mir und den Bildern im

Gespräch. Aber was ich in meinen Bildern versuche, ist etwas Unaussprechliches auf eine

andere Art und Weise zu bannen. Das bedeutet nicht, dass der Betrachter vor dem Bild

sprachlos sein soll – aber ich glaube, es gibt da eine andere Art der Kommunikation

zwischen dem Betrachter und dem Bild.

I.J.: Wie erinnerst Du Dich an Deine Kindheit?

W.H.: Ich hatte zum größten Teil eine sehr schöne Kindheit – mit den Hochs und Tiefs, die

jeder in seiner Kindheit hat. Ich habe auch heute noch ein gutes Verhältnis zu meinen

Eltern und meinen drei Geschwistern.

Auch in meiner Arbeit, wenn ich mich reflektiere, denke ich viel über die Kindheit nach.

Das gehört mit dazu – die Reflexion fängt ja nicht mit dem Hier und Jetzt an, sondern

damit, dass man das Vergangene mit einbezieht und versucht, über das Vergangene in die

Zukunft zu blicken. Kindheit ist immer sehr intensiv – sie ist das Fundament, das uns

mitgegeben wurde.

I.J.: Welche Rolle nimmt Deine eigene Familie in Deinem Leben und künstlerischen

Schaffen ein?

W.H.: Die Familie gibt mir den Raum, in dem ich mich am liebsten bewege. Familie ist das,

was mir ein zu Hause gibt, und natürlich fließt das in meine Bilder ein. Es existieren so

viele Dinge, die auf die Familie zurück gehen: Zur gleichen Zeit sind wir Schwester, Mutter,

Großmutter, Tochter, Vater und Sohn. Das alles bleibt in einem Gefüge. Ich denke, dass es

grundsätzliche Beziehungsmuster gibt, die sich wiederholen. Und letztlich sind alle

Personen, die in meinen Bildern auftauchen, auch immer Familie - metaphorisch natürlich.

Es sind für mich die Eltern und Geschwister aller.

I.J.: Wie würdest Du Deine aktuelle künstlerische Motivation beschreiben?

W.H.: Was ich am Kunst machen wirklich faszinierend finde, ist die Möglichkeit, sich ein

Stück weit an der Realität beteiligen zu können, sich immer wieder etwas bildhaft

vorzustellen, also etwas begreifbar zu machen - in dem Sinne, dass man Farbe und einen

Bildträger nimmt und etwas schafft, das dann wirklich auch begreifbar wird, dadurch, dass

es zur Realität, zu einem Objekt geworden ist. Natürlich ist ein Bild immer nur ein

Objektträger einer ausgedachten Utopie oder einer Wirklichkeit, aber hat man es dann

wirklich bis zum Ende gebracht, ist da etwas. Und das ist dann auch nicht mehr weg zu

reden. Man kann wegschauen, aber man wird das Ding nicht mehr los. Wirklichkeit ist

doch immer das, was wir dazu erklären.

I.J.: Hinterglasmalerei, Acrylglas und Acryl-Lacke - welche Bedeutung oder

Metaphorik haben denn diese Materialien für Dich?

W.H.: Die Wahl meiner Materialien ist über einen längeren Zeitraum entstanden. Ich habe

lange Zeit sehr gerne in den klassischen Bereichen gearbeitet – zum Beispiel mit Ei-

Tempera. In der Zeit, als ich in Finnland war, habe ich diese Technik unheimlich exzessiv

angewandt. Ich bin letztlich bei der Hinterglasmalerei angekommen, weil ich auf der Suche

nach einer sehr glatten Oberfläche war. Angefangen hat das mit kleinen Folien, die ich

zunächst vorderseitig bemalt habe - und dann habe ich die Rückseite für mich entdeckt.

Dieses Arbeiten kommt mir sehr entgegen, denn es ist ja ein umgekehrtes Arbeiten, das

es mir ermöglicht, anders zu reflektieren – also das Gemalte nochmals spiegelverkehrt zu

überprüfen - im Gegensatz zur Leinwand, bei der man ja immer wieder eine Schicht über

die andere legt. Bei der Hinterglasmalerei arbeitet man sich vom Vordergrund zum

Hintergrund und vollzieht sozusagen den umgekehrten Prozess.

Die Hauptakteure, die Szene selbst interessiert mich - das, was auf der Bühne, also auf

dem Bild, geschehen soll. Der Hintergrund spielt natürlich auch eine wichtige Rolle, tritt

aber erst einmal im wahrsten Sinne des Wortes in den Hintergrund zurück. Ich habe früher

oft an Leinwänden gearbeitet, bei denen ich immer wieder neu drüber gegangen bin und

kein Ende gefunden habe. Es gibt da einen Punkt, an dem das gemalte Bild einfach nicht

mehr besser wird. Die Hinterglasmalerei zwingt mich auf den Punkt zu kommen und das

Gemalte ernst zu nehmen. Es gibt nicht so viele Möglichkeiten, das dann wieder zu

revidieren.

Momentan arbeite ich mit Acrylglas, weil das Material für mich ein Zeitzeuge ist. Ich denke,

dass das Material auch immer ein Träger dessen ist, was Gegenwart ausmacht. Man

findet es überall. Die meisten Dinge sind aus Kunststoff, auf Hochglanz poliert und überglatt.

Es symbolisiert für mich eine Unnahbarkeit, mit der sich die heutige Zeit zu

schmücken versucht: Es steckt also auch eine gewisse Ironie in der Wahl meiner

Materialien in Bezug auf die heutige Zeit.

Auf der anderen Seite wirkt das Glas wie ein extrem intensiver Abschlussfirnis. Über

diesen letzten Firnis haben sich ja die Maler über die Jahrhunderte gestritten. Er lässt

diese unglaubliche Tiefenwirkung entstehen. Man muss erst durch das Glas hindurch in

das Bild hinein schauen. Es ist die Art und Weise, wie das Glas die Farbe annimmt: Sie

erhält ihren Glanz, flüssige Prozesse werden eingefroren und die Pinselstriche heben sich

klar ab.

I.J.: Würdest Du von Dir selbst sagen, dass Du als Künstler eine Botschaft hast?

W.H.: Eine Botschaft gibt es immer. Jeder von uns hat eine Botschaft. Selbst der

Unpolitische ist nicht unpolitisch, denn auch das ist eine Aussage.

Meine Bilder haben eine Botschaft, und ich bin manchmal selbst erstaunt darüber, was sie

mir erzählen. Vielleicht ist es für den Betrachter manchmal nicht nachvollziehbar, dass der

Künstler dem eigenen Bild hinterher hängt: Doch mir geht es selbst oft so, dass ich

versuche, mit den Bildern in Kontakt zu treten und von ihnen zu lernen.

I.J.: Die Themen Deiner Bilder sind oft schwer, teils düster, nachdenklich oder

zumindest ernst. Was ist Deine Intention bezüglich dieser Schwere?

W.H.: Das verstehe ich oft gar nicht – die Schwere meiner Bilder, die mir nachgesagt wird

oder diese dunkle Seite... Ich empfinde das eigentlich gar nicht so. Ich empfinde meine

Kunst eher dem Leben sehr nahe. Ich arbeite auch nicht willentlich surreal – das

Verfremden dient eher dem Versuch einer Realitätsbeschreibung. Das Leben besteht

doch aus sehr dunklen und sehr lichten Momenten. Und ich versuche in meiner Arbeit,

diese Waage zu halten.

I.J.: Welchen Stellenwert hat die Vergänglichkeit und der Tod in Deiner Kunst und in

Deinem Leben?

W.H.: Der Tod spielt in meiner Kunst und in meinem Leben eine große Rolle – mindestens

eine so große Rolle, wie das Leben selbst - wahrscheinlich sind es sogar meine

Hauptthemen. Ich mache mir sehr viele Gedanken darüber, wie es kommt, dass wir da

sind und wohin wir gehen. Die vorchristlichen Finnen standen mit Ihren Ahnen im Kontakt

und hatten ein wesentlich natürlicheres Verhältnis zum Tod. In ihrem Epos, dem Kalevala,

beschreiben sie zum Beispiel, dass es eine wesentlich bedrohlicheres Szenario gibt als

den Tod. Sie berichten von ihrer Angst vor einem Ungeheuer, das sich Vipunen nennt.

Vipunen ist nicht der Tod, sondern er ist der Abgrund, in den man fallen kann, der den

Raum von der Zeit trennt.

Jeder macht ja eigene Erfahrungen mit diesem Thema, und die Sichtweise verändert sich

natürlich auch über die Jahre. Der Tod wandert mit – er ist ein ständiger Begleiter und

Bestandteil des Lebens. Er sitzt uns doch immer auf der Schulter – es könnte ja jederzeit

so weit sein. Ich sehe im Tod eigentlich nichts Negatives sondern begreife ihn eher als

einen Fakt. Wir freuen uns alle, dass Kinder geboren werden aber wollen nicht darüber

reden, dass wir auch sterben müssen. Das macht mich manchmal schon nachdenklich.

I.J.: Sind deine Bilder allgemein gültige Metaphern oder persönliche Geschichten?

Wie entwickelst Du Deine Motive? Ist Deine Herangehensweise eher rational oder

intuitiv, unterbewusst und emotional?

W.H.: Als aller erstes zeichne ich unheimlich viel. Und das Zeichnen ist eine Welt für sich,

in der sich dies alles klärt. Am schönsten ist es, wenn ich mir selbst beim Zeichnen

zusehen kann und es einfach läuft. Zeichnen ist für mich wie Nachdenken – nur auf einer

anderen Ebene – und dient dann manchmal als Annäherung an die Malerei. Situationen

und Zeichnungen collagieren sich beinahe wie von selbst – schon bei der Entstehung in

meinen Skizzen. Die einzelnen Fragmente sind intuitiv gesetzt, und so entwickelt sich

dann das Motiv. Ich will gar nicht so viel bewusst beeinflussen. Je konkreter meine

Vorstellungen sind, desto schwerer fällt mir die Umsetzung meiner Bilder. Das nur

Gewollte funktioniert bei mir nicht. Ich zeichne am liebsten wenn ich auf Reisen bin und

Eindrücke einfangen kann. Das ist dann beinahe so wie fischen gehen: Anstatt der Angel

halte ich den Stift und hoffe, dass etwas anbeißt. Vieles kommt natürlich auch aus meinen

inneren Bildern und Erinnerungen. Das formt sich dann zusammen – es ist also nie nur

das eine oder das andere, sondern es geht Hand in Hand. Aber Zeichnungen sind immer

der Anfang – ohne Zeichnungen würde es keine Bilder geben. Ich komme von der

Zeichnung und münde in die Farbe.

I.J.: Arbeitest Du in Deinen Bildern persönliche Erlebnisse auf, oder reflektierst Du

Weltgeschehen?

W.H.: Es ist ein Prozess, durch den ich gehe: Es ist ein Nachdenken, ein Unterhalten mit

Freunden und Fremden über das Zeitgeschehen, Nachdenken über mich selbst. Viele

Inhalte beziehen sich auf die Familie, die ich als kleinsten Kern der Gesellschaft sehe, in

der sich auch widerspiegelt, wie wir im Großen miteinander umgehen. Max Beckmann

begreift „den Menschen im Verhältnis zu seiner Welt, die nicht allein das Dasein, sondern

das ganze Sein umfasst.“1 Das beschreibt mit Worten am besten, warum ich Kunst mache,

oder was ich da eigentlich versuche.

I.J.: Wie nimmst Du den heutigen Zeitgeist war – in Bezug auf Kultur und Kultur-

Konsum?

W.H.: Zeitgeist ist erst einmal ein sehr schönes Wort – ich habe deshalb auch schon ein

Bild mit diesem Titel benannt. Es ist eigentlich eine merkwürdige Angelegenheit, weil sich

1 Reimertz, Stephan 'Max Beckmann', Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1995, S. 14

der Zeitgeist jeden Tag neu erschafft. Es ist zwar so, dass er am morgen ähnlich aufwacht,

wie am vorigen Tag, aber natürlich ändert er sich, wie wir auch, über die Jahre. Der

heutige Zeitgeist ist einer, der sich nicht wirklich traut, in den Spiegel zu gucken – vielleicht

auch verwirrt ist, wenn gleich auch sehr aufgeklärt.

I.J.: Wie beurteilst Du selbst die Relevanz Deiner Bilder im aktuellen

Kunstgeschehen?

W.H.: Die Bilder nehmen Ihren Platz ein, und für mich werden meine Bilder immer bleiben,

was sie sind: Sie sind Positionen, denen man Gehör schenken kann. Ich hoffe, meine

Bilder geben etwas dazu, was diese Zeit beschreibt, was hilft, diese Zeit zu reflektieren

und uns selbst besser zu verstehen.

I.J.: Wie bewertest Du die Rolle der Kunst in der Gesellschaft in Bezug auf Luxus,

Käuflichkeit und Aufklärung? Eigentlich ist Kunst ja ein Erkenntnisprozess, der

aber heute als Ware gehandelt wird...

W.H.: Beides existiert nebeneinander. Sie ist Ware und wird so gehandelt, aber sie

transportiert auch immer etwas mit sich. Es ist wichtig, dass der Kunst Raum gegeben

wird und dass sie gesehen werden kann. Darum ist das Museale auch eine sehr gute

Lösung für das, was man mit Kunst machen kann.

I.J.: Du arbeitest schon seit 2008 an dem Zyklus 'Die großen Prozesse', der einige

Werke umfassen wird. Viele Themen, die wir hier besprechen, fließen ja in diese

Arbeit mit ein. Wie genau würdest Du das Konzept beschreiben? Du legst ja in den

einzelnen Bildern verschiedene Themen-Ebenen übereinander...

W.H.: Die Idee, die hinter diesem Zyklus von acht großen Platten steckt, ist so etwas wie

einen Verlauf dazustellen, um einen längeren Zusammenhang irgendwie begreiflich zu

machen – nicht nur für den Betrachter, sondern auch für mich selbst. Es ist sozusagen so

etwas wie eine Selbstreflexion, von der aus ich mir versuche, größere Prozesse klar zu

machen. Ich versuche in diesem Zyklus, das Große mit dem Kleinen zu vergleichen – also

den Menschen mit der Menschheit in Beziehung zu setzen.

Es ist ein Versuch, die Arbeiten so aneinander zu reihen, dass jedes Bild für sich allein

steht aber die Übergänge aneinander gefügt werden können - so dass am Ende eine Art

Breitband-Panorama entsteht, das einen evolutionären Hergang aufzeigen soll. Hierbei

wechseln dann innerhalb der acht Platten die Jahreszeiten von Frühling bis in den Winter,

wobei jede Jahreszeit zwei Platten bekommt. Zeitgleich ändert sich auch der Stand der

Sonne. Es geht also von morgens über mittags, nachmittags bis in die tiefe Nacht hinein.

Am Anfang der Frühling - das noch Unschuldige, das Bild ist noch menschenleer. Später

dann die Vertreibung aus dem Paradies durch den Einfluss der Erkenntnis. Im Herbst das

Anwachsen von Menschensiedlungen und technischen Errungenschaften. All dies spinnt

sich mit dem Winter und die Tiefe der Nacht zum Ende und findet im Frühling seinen

Anschluss.

Die ganze Arbeit wird 24 Meter lang, was auf eine raumfüllende Installation hinauslaufen

wird. Bei diesem Resümee werden sich die Bildmotive ebenso verschlüsselt wie schon in

den vorhandenen Bildern darstellen.

Das wir bis heute gekommen sind – das ist für mich hierbei immer wieder völlig

faszinierend!

I.J.: Welche Bedeutung hat Religion für Dein Leben und Deine Kunst?

W.H.: Religion ist für meine Arbeit wichtig, weil sie gesellschaftliche Relevanz hat. Ich

gehe auf die religiösen und biblischen Themen deswegen ein, weil ich so erzogen worden

bin. Das ist das, was ich mitbekommen habe und was ich weitererzählen kann – also von

der Geschichte aus meinem Kulturkreis, die sich für mich immer dadurch klar definiert,

weil sie verstanden wird. Natürlich ziehe ich auch andere Geschichten hinzu – alleine

schon deswegen, weil meine Mutter aus Finnland kommt, z.B. den Kalevala, den Mythos

der alten Finnen, mit seiner eigenen Definition von Gut und Böse. Ich denke Religion ist

wichtig. Womit ich allerdings Schwierigkeiten habe, sind Institutionen wie zum Beispiel die

Kirche. Aber den Glauben sollten wir uns nicht ab-erziehen lassen.

I.J.: Warum?

W.H.: Ich bin der Überzeugung, dass man einen Glauben hat. Und wenn man nicht weiß,

dass man einen hat, ist das manchmal sehr traurig. Wenn man einen hat, ist das zwar

auch nicht immer von Nutzen. Aber ich glaube nicht, dass wir keinen Glauben haben

können - ich glaube, dass das Leben gar nicht ohne Glauben auskommt. Glaube ist auch

Lebenswille.

I.J.: Welche Rolle hat die Kunst Deiner Meinung nach in der heutigen Gesellschaft?

W.H.: Mir missfällt es manchmal, die Kunst zu hoch zu loben. Ich finde Beuys hat das

ganz gut auf den Punkt gebracht, und eigentlich müssten wir es seitdem besser wissen –

tun wir aber nicht. Der Künstler hat die Chance, sich über den Prozess, in dem wir

Menschen uns befinden, den ganzen Tag Gedanken zu machen. Das ist eine luxuriöse

Aufgabe. Aber ich glaube, dass letztlich jeder über diese Prozesse nachdenkt – mit

unterschiedlicher Intensität und mit verschiedenen Einsichten. Wo fängt Philosophie an,

und wo hört Kunst auf? Wann ist Kochen Kunst? Kunst hat für mich keine gesonderte

Stellung, hoch oben in einem Elfenbeinturm. Beuys Aussage war, dass die Kunst zum

Menschen gehört und der Mensch zur Kunst, und dass der Umstand, dass wir alle da sind,

ein riesiges Kunstwerk ist, worin wir aufgehen und uns selbst nicht so wichtig nehmen

sollten.2

2 Brügge, Peter 'Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt' - Spiegel-Gespräch mit Joseph Beuys über

Anthroposophie und die Zukunft der Menschheit in: Der Spiegel 23/1984, 04.06.1984

I.J.: Wie gehst Du denn vor diesem Hintergrund mit Deiner eigenen zunehmenden

Bekanntheit um?

W.H.: Kunst und Erfolg – das sind ambivalente Themen. Es ist nicht leicht, erfolglos zu

sein – und es ist genauso schwierig, Erfolg zu haben. Aber das definiert man ja letztlich

auch für sich selbst: Wann ist man erfolgreich? Wann hat man Erfolg? Und wie notwendig

ist er für die Arbeit? Ich bin unheimlich froh, dass meine drei Kinder, meine Frau und ich so

leben können, wie wir es tun. Erfolg ist schön, weil er Möglichkeiten eröffnet, mehr und

intensiver an Themen arbeiten zu können. Aber es ist manchmal auch schwierig in der

Arbeit, weil man anfängt, sich selbst unter Druck zu setzen. Man muss dann wieder zu

dem Punkt kommen, dass man es für sich tut. Wenn ich Kunst nur wegen des Erfolges

machen würde, wäre ich kein Künstler.

I.J.: Wie findest Du zu Deinen inhaltlichen Positionen?

W.H.: Bei mir entsteht eine Haltung nicht immer nur durch Hoffnung – sondern sie entsteht

manchmal sogar eher durch eine Hoffnungslosigkeit und durch die Notwendigkeit,

Lebensumstände zu ändern, um ein wirkliches Voran im eigenen Schaffen zu bewirken.

Ich gehe jeden Morgen in mein Atelier, um der Wahrheit wahrhaftig ins Auge und nicht nur

auf den Mund zu sehen. Mein größter Wunsch ist es, beim Betrachter so etwas wie ein

Kopfkino in Gang zu setzen, das ihn mit seinen eigenen vergangenen Bildern konfrontiert

und ihn mit sich selbst auseinander setzten lässt. Da sind Erinnerungsmuster, die mir

auffallen – so wie beispielsweise Mütter ihre Kinder tragen oder wie die Großmutter dem

Enkel das Gesicht streichelt. Das sind Erinnerungen, die ich für mich gebannt habe. Aber

wenn ich sie wieder hervor bringe und so durch meine Bilder in Anderen wieder wachrufen

kann, freut mich das. Ich glaube darum tragen wir auch Fotos mit uns herum. Die

Erinnerung ist der Motor, um die Zukunft zu gestalten.

Das Wort Metapher kommt aus dem Griechischem und bedeutet hinüber tragen, befördern

und wenn ich ein gutes Bild gemalt habe, habe ich das Gefühl, dass ich etwas hinüber

tragen konnte.

I.J.: Würdest Du Deine Kunst eigentlich eher als poetisch oder politisch

beschreiben?

W.H.: Politisch? Poetisch? Ich weiß gar nicht, ob man das so trennen kann. Ich würde mir

eine poetischere Politik wünschen. Letztlich ist doch alles politisch. Bin ich ein Poet, oder

bin ich ein Politiker?! Ich glaube, ich bin keins von beiden oder beides.

I.J.: ...oder ein Philosoph?

W.H.: Die Frage ist, ob man das immer alles so getrennt wahrnehmen muss. Ich versuche,

das Leben von allen Seiten zu sehen. Ich versuche es rund zu machen. Ob mir das so gut

(http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13508033.html)

gelingt, weiß ich natürlich nicht. Aber mir geht es eigentlich darum, die Verbindungen

herzustellen. Ich begreife mich als Vermittler.

I.J.: ...zwischen den Disziplinen sozusagen...

W.H.: Genau! Und dass es jetzt gerade die Kunst ist oder das Bild an sich, das mir die

Möglichkeit gibt, über das Leben zu berichten, ergibt sich daraus, dass ich es schon immer

so gemacht habe. Ich denke in Bildern. Wenn ich mir Sachen merke, dann sehe ich das

Bild.

I.J.: Wie ist Dein Blick auf die aktuellen ökonomischen und ökologischen Krisen, mit

denen wir global konfrontiert sind?

W.H.: Ich glaube, wir müssen uns entscheiden, ob wir nur das System am Leben erhalten

wollen oder ob wir wirklich leben wollen! Die Frage nach dem Haben und Sein hat Fromm

schon vor einiger Zeit zu Recht gestellt.3 Ich weiß nicht, ob wir uns momentan so bewusst

darüber sind, dass wir im Habe-Modus leben und nicht im Seins-Modus. Fromm hat

befürchtet, dass das eintritt, und ich würde sagen, es ist eingetreten: Das Kind ist in den

Brunnen gefallen. Wir sind mitten drin in einem dominanten Kapitalismus, der uns zu

Sachen treibt, die wir eigentlich nicht wollen – die uns nicht wirklich gut tun. Wenn wir

wirklich bewusst wären, würden wir diesen übertriebenen Konsum – dieses

Suchtverhalten erst gar nicht so an den Tag legen. Wir sind süchtig geworden. Wir sind

süchtig nach dem Konsum.

I.J.: Glaubst Du denn, dass der Mensch in der Lage ist, Maß zu halten? In Bezug auf

den Kapitalismus: Glaubst Du, dass der Kapitalismus eine Konsequenz des

Menschseins ist, oder glaubst Du, dass er eine Geißel ist – wie eine Krankheit oder

eine falsche Heilslehre?

W.H.: Wenn man von Krankheit, Genesung und Gesundheit spricht, dann würde ich schon

sagen, dass unsere Gesellschaft an einigen Dingen krankt. Wir haben ja schon einige '-

ismen' durchgemacht – den Sozialismus, Faschismus... und nun eben den Kapitalismus.

Bei einer Studie, die in China durchgeführt wurde in Bezug auf kapitalistisch orientierte

Systeme, kam heraus, dass sich das persönliche Wohlbefinden durch zunehmenden

Reichtum ab einer bestimmten Einkommensgrenze nicht steigerte, sondern sogar eher

rückläufig war.4 Es ist schon interessant zu sehen, dass mehr Besitz nicht zwingend zu

einem glücklicheren Leben führt. Momentan ist ja die Depression als Volkskrankheit auf

dem Vormarsch: 121 Millionen Menschen leiden derzeit unter dieser Krankheit - und

erstaunlicherweise vermehrt in den führenden Wirtschaftsnationen.5

3 Fromm, Erich 'To Have or to Be?' (World Perspectives Vol. 50), HarperCollins Publishers, New York 1976

4 Easterlin, R. A., Morgan, R., Switek, M. & Wang, F. 'China's life satisfaction, 1990-2010' in: 'Proceedings

of the National Academy of Sciences of the United States of America', PNAS 14.05.2012, doi:

10.1073/pnas.1205672109 (http://www.pnas.org/content/early/2012/05/09/1205672109.full.pdf)

5 Bromet, Evelyn et al. 'Cross-national epidemiology of DSM-IV major depressive episode' in: BMC

In diesem Zusammenhang macht es Sinn sich zu fragen, woher diese Sucht nach dem

Konsumieren in uns stammt und warum es uns anscheinend so unglücklich macht. Das ist

ja eine Art der Kompensation, die wir da betreiben. Ich denke oft darüber nach, aus

welcher Zeit wir kommen und zu was wir uns da entwickeln oder was wir da versuchen zu

verdrängen: Der letzte Weltkrieg, mit all seinem furchtbaren Schrecken, ist ja gerade

einmal 67 Jahr her. Das entspricht in etwa dem Durchschnittsalter eines Mitteleuropäers.

Hierzu gibt es in der Psychologie Erkenntnisse darüber, dass wir durch Spiegelneuronen

auch Traumata transgenerational, also über Generationen hinweg, übertragen. Das geht

soweit, dass sich sogar noch die Enkel der Kriegsgeneration in therapeutischen

Behandlungen Problemen gegenüber sehen, die eigentlich nicht die eigenen sind. Wir

sind immer auch das, was unsere Väter und Großväter durchgemacht und erlebt haben.

Das alles steckt also noch tief in uns und folgt aufeinander und ist in sich verwoben.

Erst in den letzten 20 bis 30 Jahren haben wir durch die Flut an Informationen begriffen,

welche Auswirkungen unser Handeln auf den Planeten hat. Diese Erkenntnis hat dazu

geführt, dass wir als Mensch ein sehr schlechtes Selbstwertgefühl entwickelt haben. Wir

sind lethargisch geworden angesichts der, in unseren Augen, kaum noch zu

bewältigenden Probleme. Doch wir sind zu Großem imstande! Nur unsere

Selbsteinschätzung funktioniert nicht so gut – und daran sollten wir arbeiten. Aber ich

würde nicht so weit gehen zu sagen, dass die ganze Gesellschaft oder gar die ganze

Menschheit krank ist oder schlecht. Das würde ich sogar ganz stark verneinen.

I.J.: Was ist denn für Dich Lebensqualität?

W.H.: Lebensqualität hat für mich auf alle Fälle damit zu tun, ein bewussteres Leben zu

führen. Ich glaube, dass das Bewusstsein für ganzheitliches Denken und Handeln

deswegen in uns wächst, weil wir auf die komplexen Zusammenhänge blicken und ahnen,

dass wir auf diesem Wege so nicht weiterkommen. Diese Geringschätzung der Güter, die

massenhaft produziert werden – das ist, glaube ich, das Krankhafteste, was wir uns durch

den Kapitalismus selbst antun. Wir reduzieren die Welt auf Waren und nennen und selbst

Verbraucher, deren Wert sich an seiner Kauflust misst. Ich glaube wenn wir von einem

zum nächsten gehen und die ganze Zeit nur das Konsumieren und nicht das Leben selber

spüren, dann wird uns ein bewusstes Dasein nicht gelingen.

I.J.: Also eigentlich ist es die Frage nach Quantität oder Qualität...

W.H.: Die Strukturen sind außer Rand und Band geraten – so sehr, dass sich die meisten

Menschen nicht mehr wohl fühlen. Einige haben sehr viel Geld und andere haben keins –

das ist doch kein Zustand!

I.J.: Was ist Deine Prognose für die kommenden globalen Entwicklungen?

Medicine 2011, 9:90; doi:10.1186/1741-7015-9-90 (http://psychologienachrichten.de/?p=1263)

W.H.: Das ist schwer zu sagen. Ich denke, dass wir alle große Prozesse darstellen und

Teil eines übergeordneten Prozesses sind. Es ist gut, wenn wir kritisch denken. Aber wir

sollten nicht zu selbstkritisch werden, in dem Sinne, dass wir drohen, in eine kollektive

Depression zu verfallen, weil es überhaupt nicht an der Zeit ist. Eigentlich ist Tatendrang

gefragt. Wir werden uns weiter entwickeln – mehr oder weniger gut. Aber das Leben an

sich ist gut – davon müssen wir ausgehen.

I.J.: Warum?

W.H.: Weil wir nur das eine Leben haben. Und weil dieses Leben das einzige ist, was uns

ausmacht.


Wolf Hamm – In der Kürze der Zeit“,  Beck & Eggeling ( Hrsg.), Beck & Eggeling Kunstverlag 2012 ( Text Iris Jungels )